Kalender

Zum herunterladen als pdf: Kalender 2005, der das Projekt dokumentiert, herausgegeben vom Sepulkralmuseum/ Kassel



Einführende Worte zum Kalender:

Lebenszeichen – Grabzeichen oder: "Vom Wohnzimmer auf den Friedhof"

Ein Kunstprojekt nach einer Idee von Michael Spengler in Zusammenarbeit mit der Versöhnungskirchgemeinde für den ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin

Manchmal bekommen Ideen eine Eigendynamik, die in einem einzigen, provozierend wirkenden Satz münden. "Vom Wohnzimmer auf den Friedhof", so war die Pressemitteilung überschrieben, die am 28.5.2003 zum 1. Ökumenischen Kirchentag Journalisten auf das Freigelände der Versöhnungskirche in Berlin rief.

Was war geschehen?

Eigentlich war alles sehr viel kleiner geplant.

Das Projekt hieß "Jedem Menschen sein Denkmal". Ich hatte es entwickelt für ein Stipendienaufenthalt in einem Künstlerhaus in Norddeutschland.

Ein Bürger der kleinen Stadt sollte die Möglichkeit erhalten, in Zusammenarbeit mit mir für sich selbst oder für jemanden, der ihm sehr nahe steht, ein Denkmal zu konzipieren und zu realisieren. Nicht etwa eine wichtigtuerisch anmutende Porträtbüste, sondern ein Denkmal, was in Form und Material unverwechselbar mit der Person, für die es gemacht wurde, in Verbindung steht und Assoziationen weckt.

Als ich meinen Nachbarn Pfarrer Fischer und Rainer Just von der Versöhnungsgemeinde von dieser Idee berichtete, wurden sie hellhörig. Das war etwas für den 1. Ökumenischen Kirchentag in Berlin.

Gemeinsam wurde das Projekt zu einem dreitägigen Symposium mit mehreren Bildhauern erweitert.

Mitglieder der Gemeinde sollten die Gelegenheit erhalten, für sich selbst in Zusammenarbeit mit einem Bildhauer ein Denkmal entwerfen zu lassen, was während des Kirchentages realisiert wird.

Ein "Lebenszeichen", was im heimischen Garten oder der eigenen Wohnung aufgestellt nach dem Tod auf dem Friedhof zum Grabzeichen wird.

Irgendwann könnte es wieder von den Enkeln oder Urenkeln zurück in die private Umgebung genommen werden und wäre dann ein Andenken an einen ihrer Vorfahren. Das Freigelände um die Kapelle der Versöhnung herum eignet sich hervorragend für Aktionen zu den Themen "Tod, Verwandlung oder Neuanfang".

Hier, an der Grenze zwischen den Bezirken Mitte und Wedding, stand bis 1985 die Versöhnungskirche unzugänglich direkt in dem Todesstreifen der Berliner Mauer. Auf Geheiß der DDR- Regierung wurde das Gebäude gesprengt. Die Bilder des einbrechenden Turmes mit dem abknickendem Kreuz gingen damals um die Welt. Seit dem Jahr 2000 steht an dieser Stelle die "Kapelle der Versöhnung", ein überaus interessanter Neubau aus Lehm, der zahlreiche Besucher aus aller Welt anzieht.

Ich sprach Fachkollegen im In- und Ausland an, von denen ich wusste, dass sie sich dem Thema jenseits aller vorgefaßten Denkstrukturen und Formensprachen würden annähern können: diplomierte Holzgestalter, Metallbildhauer und Steinmetz/Innen, von ihren Ausbildungen her akademisch, handwerklich oder mit Mischungen daraus geprägt. Die Zusammensetzung der Gruppe versprach interessante Diskussionen und kreative Auseinandersetzungen zum Thema.

Am Totensonntag 2002 stellten Pfarrer Fischer und Jürgen Rennert vom Kunstdienst der Evangelischen Kirche diese Idee der Gemeinde vor. Auf dem Gelände der Kapelle wurde eine Fotoausstellung zu besonderen Grabzeichen in Europa eröffnet.
Die Bildhauer waren anwesend und erste Kontakte wurden geknüpft.

Im Zuge der Vorbereitungen wurde zunehmend deutlich, dass sich innerhalb der Gemeinde in dem kurzen Zeitrahmen nicht genug Personen bereit finden würden, für sich ein Lebenszeichen gestalten zu lassen.

So wurde der Kreis der zukünftigen Besitzer der Lebenszeichen über die Gemeinde hinaus weiter gezogen.

Die anfänglichen Schwierigkeiten, Menschen zu finden, welche zu Lebzeiten bereit sind, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen, machte uns noch einmal die Crux unseres beruflichen Ansatzes deutlich.

Alle an der Aktion beteiligten Bildhauer/Innen beschäftigen sich während ihrer Arbeit mit dem Thema Grabzeichen. Sie versuchen, Denkmale in Zusammenarbeit mit den Angehörigen zu entwerfen, die einen Bezug zu dem Verstorbenen haben.

Doch wann kann man den Menschen diese Idee, diesen anderen, persönlichen Ansatz vermitteln?

In dem Moment, wo gerade jemand gestorben ist?

Stirbt jemand im engsten Familien- oder Freundeskreis, so sind die Blicke von Trauer geprägt und nach Innen gewandt. Man befindet sich körperlich wie seelisch in einem Ausnahmezustand.

Viele Angehörige, die sonst mit klaren Vorstellungen und selbstbewusst durch das Leben schreiten, überlassen so wichtigste Entscheidungen an den Wendepunkten ihres Lebens außenstehenden, fremden Menschen.

Der Missmut kommt hinterher. Warum hat man sich eine wichtige Sache aus den Händen nehmen lassen?

Wann also erreicht ein Bildhauer, der ein Grabzeichen als persönliches Denkmal für einen Verstorbenen versteht, den Menschen?

Die Antwort kann nur sein: In der Blüte seines Lebens, in der er voller Kraft und Zuversicht in die Zukunft blickt und eigenbestimmt handeln und entscheiden kann. Dann hat der Mensch die Gelassenheit und die Souveränität, sich mit der eigenen Seinsflüchtigkeit auseinanderzusetzen und ....mit seiner Einzigartigkeit ! Denn jeder hinterlässt oder hat Spuren im Weltgeschehen hinterlassen. Sind diese Spuren auch als Einzelne im Nachhinein oft schwer wiederauffindbar, so bleibt doch das Wissen, dass keine Kraft verlorengeht, so wie der Schmetterling, der innerhalb von vielschichtigen Strukturen der eigentliche Auslöser des Wirbelsturmes war....

Ich wünsche mir, dass dieser Kalender als Dokumentation des Projektes "Lebenszeichen/ Grabzeichen" dazu beiträgt, den lebenden wie den toten Menschen als einzigartig zu begreifen und dies auch (an)faßbar auf unseren Friedhöfen zum Ausdruck zu bringen.

Michael Spengler Berlin, im April 2004

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